Unruhen wurden als „Proteste“ verharmlost: Wie die Black-Lives-Matter-Gewalt Amerika bis heute prägt

In der Nacht des 1. Juni 2020, vor fast genau fünf Jahren, fielen nur wenige Blocks von meiner Wohnung in East Midtown Manhattan Schüsse. Während meine Frau und ich nervös durch die Nachrichten scrollten, schliefen unsere Kinder – damals drei und ein Jahr alt – friedlich weiter und bekamen nichts von den grellen Sirenen mit, die auf das Chaos vor unserer Tür hinwiesen. Gegen 23 Uhr ging ich nach draußen, um mir selbst ein Bild zu machen: Plündererbanden verwüsteten Geschäfte entlang der Lexington Avenue, während die New Yorker Polizei tatenlos danebenstand – unfähig oder unwillig, einzugreifen. „Black Lives Matter.“
Diese Nacht und ihre Folgen waren, wie ich heute glaube, der entscheidende Auslöser für die gegenwärtige Anti-Mainstream-Bewegung, die die US-Kultur durchzieht. Damals brach das ohnehin angespannte epistemische Gefüge der Covid-Ära endgültig zusammen. Millionen Menschen kamen zu dem Schluss, dass man institutionellen Aussagen grundsätzlich nicht trauen könne. Die Profiteure fanden ein riesiges Publikum: YouTube-Verschwörungstheoretiker, halbgebildete Fitnesscoaches, Hobby-Holocaust-Relativierer, Manosphere-Typen, sabbernde X-Rassisten.
Politisch bedeutete das, dass die Trump-nahe Rechte und ihre neuen Verbündeten aus dem Tech-Sektor eine Reihe eigennütziger, oligarchiefreundlicher Maßnahmen mit Verweis auf die sehr realen Schreckgespenster jener Zeit rechtfertigen konnten: „Woke“, „Diversität“, „Debanking“, „Zensur“. Dabei verschärften viele ihrer Maßnahmen genau jenes Machtungleichgewicht – zwischen Unternehmen und Verbrauchern, Individuen und Institutionen –, das 2020, dem Jahr von Seuche und Ausnahmezustand, so drastisch sichtbar geworden war.
Black Lives Matter: Bürgerkriegsszenen wurden als Protest verharmlostAls ich in jener Nacht die Plünderungen auf der Lex beobachtete, sagte ich mir, dass unser Block verschont bleiben würde – es gab dort keine besonders angesagten Läden. Ich irrte mich. Als ich in die Lobby unseres Hauses zurückkehrte, sah ich die randalierenden Gruppen die Straße entlangziehen. In den folgenden vier Stunden stellte ich mich gemeinsam mit unseren beiden unbewaffneten Sicherheitsleuten vor den Eingang, während immer mehr Plünderer vorbeikamen – einige hielten inne und musterten unsere Lobby. Wir blieben verschont, aber ein Restaurant und ein Friseursalon im Erdgeschoss wurden zerstört.
In der Bronx fuhr ein Auto absichtlich einen schwarzen NYPD-Sergeant an, sein Körper flog wie eine Stoffpuppe durch die Luft. Ein weiterer Beamter wurde im Village von einem SUV überrollt. Ich habe mich noch nie so unsicher gefühlt – und ich hatte aus dem Norden des Irak berichtet, während der IS-Vormärsche. Doch dort wusste man zumindest, dass man sich im Kriegsgebiet befand – und als Reporter bewegte man sich im Schutz der Sicherheitskräfte. Hier jedoch waren wir zu Hause – und die Polizei war überfordert und hatte offenbar den Befehl erhalten, nicht einzugreifen.
So beunruhigend diese Ereignisse auch waren – die Berichterstattung der Mainstream-Medien war vielleicht noch beunruhigender. Gegen drei Uhr morgens, als sich die Lage etwas beruhigt hatte, streamte einer der Sicherheitsleute eine Nachrichtensendung auf seinem Smartphone: „Die Proteste gehen heute Nacht in ganz New York weiter“, sagte der Moderator. Wir brachen beide in Gelächter aus. „Proteste“ – bloße Proteste – so beschrieb ein großer Sender eine Szene, die eher wie ein Bürgerkrieg anmutete.
Zensur führte zu einem generellen Misstrauen gegenüber den MedienDer eigentliche Tiefpunkt kam jedoch am 4. Juni 2020, als Gesundheitswissenschaftler der University of Washington einen offenen Brief veröffentlichten, in dem sie zu Massenversammlungen im Namen von Black Lives Matter (BLM) aufriefen. „Wir verurteilen diese Versammlungen nicht als riskant“, schrieben sie. „Wir unterstützen sie als notwendig für die nationale öffentliche Gesundheit.“ Rund 1200 Gesundheitsexperten weltweit unterzeichneten. Dieselben, die sich zuvor für das Verbot von katholischen Messen, jüdischen Beerdigungen und spielenden Kindern in Parks eingesetzt hatten.

Ich erinnere mich, dass ich damals zu einem Freund sagte: „Das hier bringt mich vielleicht noch um den Verstand.“ Bis dahin hatte ich meine gesamte Karriere bei Mainstream-Medien verbracht – wenn auch auf Kommentarseiten der rechten Mitte. Und doch verstand ich, warum viele Amerikaner auf jede Behauptung aus solchen Medien – selbst von konservativer Seite – nur noch mit einem „Was willst du mir jetzt wieder für ideologischen Unsinn auftischen? Verschwinde!“ reagierten.
Diese Hermeneutik des totalen Misstrauens wurde noch durch die Zensur in den sozialen Medien verstärkt. Die New York Post, bei der ich damals als Meinungsredakteur arbeitete, war mehr als einmal davon betroffen. Im Februar 2020 sperrte Facebook einen Beitrag der Post, der lediglich die Möglichkeit erwähnte, dass das Coronavirus aus einem Labor stammen könnte – wohlgemerkt ohne dies zu behaupten. Der Artikel wies lediglich darauf hin, dass sich in Wuhan, dem Epizentrum der Pandemie, ein großes chinesisches Virologielabor befindet.
Heute geht selbst die CIA davon aus, dass ein Laborunfall die „wahrscheinlichere“ Ursache war. Dass Tech-Konzerne wie Facebook damals nicht einmal eine plausible Spekulation zuließen – und dass sie damit das öffentliche Vertrauen weiter untergruben –, hat opportunistischen Demagogen eine Bühne verschafft. Sie boten eine Art Gnosis an: „Sie verboten die Labor-These. Sie rechtfertigten Plünderungen. Sie bezeichneten Frauen in medizinischen Fachzeitschriften als ‚Menschen mit Vaginas‘.“
Und dann: „Haben sie auch über 9/11 gelogen? War Hitler wirklich der Böse?“
Warum dürfen Plattformen Nutzer wegen ihrer Meinung sperren?Ich weiß nicht, wie die traditionellen Institutionen – sofern sie diesen Namen überhaupt noch verdienen – das reparieren wollen, was in den letzten zehn Jahren zerbrochen ist, vor allem während der Pandemie. Was ich aber weiß: Unsere Gesellschaft ist dringend reparaturbedürftig. Denn es gibt keinen Ersatz für eine Wahrheitsfindung, die sich auf rigorosen Journalismus, offene öffentliche Debatten und ehrliche Wissenschaft stützt – frei von linker Ideologie ebenso wie jener des Gesundheitsministers Robert F. Kennedy Jr.

Heute nutzt die sogenannte Tech-Rechte unter Führung von Elon Musk (zu der inzwischen auch Mark Zuckerberg und Jeff Bezos zählen) das – durchaus verdiente – Misstrauen gegenüber jenen Institutionen, die eigentlich für eben diese Ideale einstehen sollten. Sie tun das, um eigene Macht- und Profitinteressen durchzusetzen.
Ein Beispiel: Nach der großen Zensurwelle 2020 – insbesondere nach der Zensur der Hunter-Biden-Laptop-Story, die sich erneut gegen die Post richtete – begann die populistische Rechte mit ernsthaften Reformvorschlägen. Ziel war, das Machtverhältnis zwischen Nutzern und Plattformen zu korrigieren. Denn deren „Nutzungsbedingungen“ – so lang wie ein Roman von Tolstoi – waren ausschließlich zu Gunsten der Plattformen formuliert.
Diskutiert wurde die Abschaffung von Section 230 des Communications Decency Act, einem Gesetz aus der Clinton-Ära, das Plattformen erlaubt, wie Verlage zu kuratieren, ohne dafür rechtlich wie Verlage zu haften. Außerdem wurde auf das Prinzip des „Common Carrier“ verwiesen: Private Betreiber öffentlicher Infrastruktur – etwa Autobahnen – dürfen Kunden nicht willkürlich diskriminieren. Warum also darf X oder Facebook jemanden wegen seiner Meinung sperren, während der Telefonanbieter ihn nicht für das Gesagte am Hörer kündigen kann?
Internetnutzer zahlen mit abgestorbenen Synapsen und rasender WutDann kam Musk und kaufte Twitter (jetzt X). Sofort begann er, der frustrierten Rechten – inklusive ihrer extremen Ausläufer – ideologische Rückendeckung zu geben. Etwa durch Zustimmung zu einem weiß-nationalistischen Nutzer, der behauptete, Juden steckten hinter dem Multikulturalismus: „Sie haben die Wahrheit gesagt.“
Die ernsthafte Debatte über eine Reform von Big Tech verschwand daraufhin fast vollständig aus der Rechten. Das Machtgefälle zwischen Nutzern und Plattformen aber blieb bestehen – ebenso wie deren willkürlich eingesetzte Fähigkeit, zu steuern, wie Milliarden von Menschen die Welt wahrnehmen und über sie denken.
Anstatt einen freien, produktiven digitalen Raum zu schaffen, werden auf X (wie auch auf Facebook) journalistische Inhalte algorithmisch abgewertet. Wer etwa einen Nachrichtenlink postet, muss damit rechnen, dass er kaum gesehen wird – unabhängig von seiner politischen Ausrichtung.
Dafür dominiert monetarisierter Schund. Beispiel: „Was fällt Ihnen auf?“, steht über einem Foto der Niagarafälle, auf dem asiatische Touristen zu sehen sind. Verstehen Sie? Ausländische Touristen „überrennen“ unsere Sehenswürdigkeiten. Solche Beiträge erzielen tausende Reposts und Likes. Die Plattformen verdienen daran, die Autoren ebenfalls – und die Nutzer bezahlen mit irrationaler Wut und abgestorbenen Synapsen.
Trump entwaffnete finanziellen VerbraucherschutzOder betrachten wir das Thema „Debanking“. Seit 2021 begannen Banken damit, Kunden wegen ihrer politischen Ansichten zu kündigen – meist betraf es zunächst populistische Rechte. Kurz vor seinem Ausscheiden erließ Rohit Chopra, Chef des Finanz-Verbraucherschutzes CFPB unter Biden, eine Regel, die solche Praktiken untersagt hätte.

Doch mit Trump II wurde das CFPB praktisch entkernt. Ein wirtschaftsfreundlicher Libertärer übernahm die Leitung. Die neue Regierung schaffte die Aufsicht über Zahlungsdienstleister ab, kippte Chopras Regel, stoppte eine Klage gegen den Bankenverband. „RIP CFPB“, triumphierte Musk. Er macht keinen Hehl daraus, X zur Geld-App machen zu wollen – und entledigte sich so präventiv eines möglichen Regulators. Gleichzeitig instrumentalisiert das Trump-Lager weiter die Angst vor „Debanking“, um deregulierte Märkte für dubiose Krypto-Geschäfte zu rechtfertigen.
Man betrachte auch die Lage an den Universitäten. 2021 trat ich dem Beirat der neu gegründeten University of Austin bei – einer Einrichtung, die sich dem klassischen akademischen Ethos verpflichtet fühlte, das etablierte Eliteschulen im Namen der „Wokeness“ preisgegeben hatten. Kürzlich aber trennte sich die Universität von einer Mitarbeiterin, die – nach eigener Aussage – in einem milden Beitrag zwar institutionelle Diversitäts-Maßnahmen kritisierte, aber grundsätzlich Diversität verteidigte. Offenbar hatte das einen rechten Spender verärgert.
Die offizielle Mitteilung der Uni an den Beirat nannte das eine langfristige, programmatische Entscheidung. Öffentlich aber betonte sie lediglich ihre Ablehnung von Diversität – was den Vorwurf der politischen Einflussnahme eher bestätigte. Einer der wichtigsten Spender soll zudem öffentlich gegen den „Kommunismus auf dem Campus“ wettern – offenbar meint er damit alles links von Attila dem Hunnen. Aus dem Beirat trat ich wieder aus.
Unruhen wieder beim Namen nennenEs gäbe noch viele weitere Beispiele. Der Punkt ist: Teile der Oligarchie nutzen das epistemische Chaos der Jahre 2020 und 2021, um ein neues Regime zu etablieren – eines, das Freiheit, Vernunft und Gemeinwohl noch entschiedener untergräbt; ein Regime, das nicht einmal mehr vorgibt, sich an jene Leitplanken zu halten, die den Westen über Jahrhunderte stabilisiert und erfolgreich gemacht haben.
Können Institutionen und „verantwortungsvolle“ Akteure das Vertrauen zurückgewinnen? Ich weiß es wirklich nicht. Aber jeder Versuch in diese Richtung muss mit einer schonungslosen Auseinandersetzung mit den Irrtümern jenes verrückten Jahres 2020 beginnen. Vielleicht hilft schon ein erster Schritt: Unruhen und Gesetzlosigkeit wieder beim Namen zu nennen.
Berliner-zeitung